Jan Delay ist "pissed". Er sagt es zwar mit dieser typisch hanseatischen Gleichgültigkeit in der Stimme, doch er ist wirklich, wirklich pissed. Das hier sollte richtig "fett" werden: Der Große Auftritt. Der letzte Act auf der großen Bühne sollten sie an diesem Festivaltag auf dem Cannstatter Wasen werden, das große Finale. Doch jetzt sollen sie plötzlich Lückenbüßer sein. Der Wu-Tang Clan steht im Stau - steckengeblieben irgendwo zwischen Biarritz, wo der Klan als Headliner bei einem anderen Festival dabei war, und Stuttgart. "Aber wir haben doch extra die flashigen Lichter mitgebracht", näselt es aus den riesigen Boxen an der Bühne. Und jetzt ist es doch noch hell. Doch die Beginner sind Profis.
"Profis" sind auch Blumentopf. Seit 1992 machen sie gemeinsam Musik und, dass sie an diesem Tag schon um kurz nach 14 Uhr auf die Bühne sollen, macht ihnen nichts aus. Zumindest erzählen sie das dem Mann von der Stuttgarter Zeitung. Kein Platz für Eitelkeiten. Aber auch kein Platz für "flashige Lichter" oder ein Bühnenbild. Die Profis machen das, was sie können: Intelligenten Hip Hop - "Studentenrap" - ein bisschen Freestyle und weg sind sie wieder. Weiter geht's zum nächsten Festival.
Ihn "Studentenrapper" zu nennen wäre zumindest fachlich falsch, eine Uni hat er nie besucht: "Was macht man ohne Abi? Schauspiel studieren", rappt Materia in "Endboss". Das Publikum rappt jede Zeile mit, auch die folgenden - und nie waren sie passender: "Dreißig Grad, ich kühl mein' Kopf /Am Fensterglas auf dem Zeitlupenknopf/Wir leben immer schneller, feiern zu hart". Doch noch schneller als die lila Wolken steigt plötzlich grüner Rauch auf. Marsimoto kommt: Materias Alter Ego, der Außerirdische mit einer Stimme als hätte er das gesamte Sortiment eines Luftballonverkäufers auf dem Rummelplatz aufgekauft und geatmet.
Parallel zu dem, was auf den beiden Bühnen geht, messen sich Freestyler in einem kleinen Zelt und bekommen mächtig Respect dafür. Sie sind mit ihren Crews gekommen aus Freiburg, Mainz und anderswo und hören auf wohlklingende Namen wie die "Flowristen".
Doch so richtig derbe wird es erst mit Ferris MC. Er hat nur die kleine Bühne und 30 Minuten, aber das Reimemonster weckt bei den von der Hitze erschöpften Fans alle Kräfte. Der Boden des Reitstadions wird aufgewirbel. Ferris braucht keinen grünen Rauch. Ferris hat einen Sandsturm in der schwäbischen Hauptstadt ausgelöst.
Sie alle sind wegen dem hier, was er macht. "Schönen guten Abend meine Damen und Herren
wir machen Rapmusik verdammt wir hören sie auch gern" - das war 1999. Das ist jetzt. Materias Zeitlupenknopf ist vielmehr eine Stopptaste, die sie alle gedrückt halten wollen. Zehn Jahre zurück. Ferris hat nichts Neues im Gepäck. Die Beginner kündigen seit geraumer Zeit ein neues Album an, desses Veröffentlichung immer und immer wieder verschoben wird.
Als die acht Rapper des Wu-Tang Clans schließlich lustlos auf der Bühne stehen und alle gleichzeitig ins Mikro schreien, hat man urplötzlich das Gefühl, tatsächlich in der Steinzeit des Hip Hop angekommen zu sein, und auch das Video zu "Gravel Pit" ergibt plötzlich einen Sinn.
Die Stopptaste steht auf 2003. Damals hatten die Beginner schon "Gustav Gans" ("Wozu der ganze Schwermut?/ Hör' lieber zu / Blick nach vor'n und fühl dich sehr gut!") dem Weck-mich-bitte-auf-aus-diesem-Alptraum von Samy Deluxe entgegengesetzt. Mit knuffigen Tieren im Video und auf der Tour. Die sind auch auf dem Hip Hop Open 2013 der Höhepunkt. Eigentlich doch gar nicht so anders als das "Easy" und "Whatever" vom Pandarapper Cro, den die Kids in ihr Herz geschlossen haben... "Die heutigen Künstler sind verwirrt, kopflos. Hip-Hop ist eine Musikrichtung, die kann nicht altern", sinnierte Rolling Stone-Redakteur Ralf Niemczyk in einem Gespräch mit Stephan Szillus, Chefredakteur der Juice, in der Augsburger Allgemeinen, in dem die beiden der Frage nachgingen: "Was kann Hip Hop heute?"
Ferris MC wird dieses Jahr 40, auch die Mitglieder von Blumentopf bewegen sich in diesem Alter, und dann kommen die Beginner. Doch auf der Bühne steht die Zeit still. Dieser Beginner-Auftritt ist absolut kein Neubeginn. Der stilisierte Fuchs, das Logo der Band, wacht noch immer über dem allen. Schließlich schleicht an diesem heißen Sommertag die Sonne doch noch in Richtung Horizont, die Wolken werden rosa und die Lichter auf der Bühne leuchten bunt. Jan Delay grinst. Richtig "flashig" die Lichter und die ganzen Leute und so. Als die Sonne untergegangen ist, müssen sie Platz für den Wu-Tang Clan machen. Doch zumindest hier hat Jan Delay das letzte Wort: "Das war fett!"
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